Expedition North: Erstbegehung der «Via Sedna»
09/22
@Ramona Waldner
Ramona Waldner
Caro North
Nach Grönland segeln und dort eine Bigwall erstbegehen. Caro North hat eine Menge Antrieb, aber keinen Motor.
Wenige Träume fallen einem in den Schoss, den meisten muss man nachjagen. Das weiss Caro North – Alpinistin, Bergführerin, Kletterverrückte – die sich für einen Traum am Fels zunächst auf offene Gewässer begab. Drei Monate lang, bis über den nördlichen Polarkreis hinaus. Eine Expedition und Lektion über Geduld, Flexibilität und Zusammenhalt, die Caro für uns in eigene Worte gefasst hat.
Ich werde in meinem Bett hoch- und runtergeworfen, durchgeschüttelt, versuche verzweifelt etwas Schlaf zu finden. Für meine nächste Wache an Deck muss ich wieder fit sein. Draussen brechen die Wellen an der Aluminiumwand unseres 15 Meter langen Segelboots, werfen es auf und ab, wieder und wieder und wieder. In tiefe Wellentäler taucht es ab, um direkt wieder emporgerissen zu werden. Der Wind zerrt an den mehrfach gerafften Segeln. Schon vor der Küste Schottlands sind wir in einen Sturm geraten, der schwerer ausfiel als vorhergesagt. Es geht gleich unvermittelt los, unser Abenteuer.
Wir, ein Team aus acht Frauen, alle mit unterschiedlichem Background, sind gemeinsam auf dem Weg von La Rochelle nach Grönland. Unser Ziel: die Erstbegehung einer Bigwall. Für die nächsten zweieinhalb Monate ist Northabout, das eingangs erwähnte, zum Glück stabile Expeditionssegelboot, unser Zuhause und Transportmittel zugleich. Auf dem Weg über den Nordatlantik bis in den hohen Norden. Am 20. Juni haben wir den Hafen von La Rochelle verlassen, nachdem wir zehn Tage non-stop unser Boot seetauglich gemacht und mit viel Verpflegung, Wasser sowie Klettermaterial beladen haben. An Bord vier Seglerinnen, 3 Kletterinnen und eine Fotografin. Es ist eine Fahrt ins Ungewisse, ins Abenteuer und in diesem Moment hatten wir noch keine Vorstellung davon, wie viele Herausforderungen sich uns noch stellen würden.
«Dann bilden sich Zweifel, ob wir jemals in Grönland klettern werden.»
Ein heftiger Sturm zwingt uns nach nur fünf Tagen dazu, in Irland anzulegen. Abwarten. Dass dies zum Thema unserer Reise werden würde, dass wir während drei Monaten durchgehend zwischen Tiefdruckgebieten und starken Stürmen navigieren und kein einziges Hochdruckgebiet kreuzen würden, hatten wir uns damals noch allesamt anders vorgestellt. Diese Expedition ist für mich die Erfüllung eines jahrelangen Traums: Der Traum, in Grönland eine Bigwall erstzubegehen – und Grönland dabei ohne Flugzeug zu erreichen. Ein Traum, der gemeinsam mit meiner Freundin und unserer Kapitänin Marta Guemes Gestalt angenommen hat. Ein Traum, den wir jetzt gerade leben, der sich aber zeitweise in einen Albtraum verwandelt, solange wir an Land festsitzen und zum Abwarten verdammt sind. Dann bilden sich Zweifel, ob wir jemals in Grönland klettern werden. Momente, in denen sich Frust breitmacht: «Warum haben genau wir so einen schlechten Sommer erwischt? Warum erscheint denn keines der für den Sommer typischen arktischen Hochdruckgebiete? Warum hört es nicht auf zu stürmen und zu regnen?» Wir sind Zeugen des Klimawandels, Zeugen dessen, dass etablierte Wettersysteme aus dem Ruder laufen. Zumindest funktioniert unser Team gut. Wir unterstützen uns gegenseitig so stark, dass wir den Frust immer wieder abschütteln und mit Humor nehmen können. Ohne dieses «DREAMTEAM» wären wir schon längst an den harten Bedingungen zerbrochen. Doch ziehen wir gemeinsam an einem Strang und muntern uns gegenseitig immer wieder dazu auf, unseren Optimismus nicht zu verlieren.
Auf der Weiterreise sind wir dazu verdammt, auf den Färöer-Inseln und auf Island schlechtes Wetter auszusitzen, bevor wir nach sechs langen und harten Wochen endlich die Küste Grönlands sichten. Was für ein unglaublicher Moment, dieser so herbeigesehnte Moment. Allerdings versperrt das Packeis uns noch den Weg in den Scoresbysund – der Ort, an dem die grossen Granitwände auf uns warten. Es heisst also wieder Geduld aufbringen und warten, in einem Fjord etwas weiter im Süden. Immerhin können wir alle gemeinsam auf einen kleinen Gipfel laufen und zu meiner grossen Freude kann ich mit dem Gleitschirm runterfliegen. Diesmal fällt das Warten kürzer aus. Wir können noch am gleichen Abend den Anker lichten, uns weiter in Richtung Scoresbysund fortbewegen, zwischen Eisschollen und Eisbergen jeglicher Grössenordnung hindurch. Eine wahnsinnig beeindruckende und technische Navigation durch dieses Labyrinth aus Eis, permanent geleitet durch eine Person im Mast. Zu diesem Naturspektakel gesellt sich noch ein Eisbär auf dem Packeis, den wir fasziniert durch unser Fernglas beobachten. Endlich lässt es das Wetter zu, dass die Seglerinnen uns an Land absetzen. Von nun an beginnt ein Wettlauf gegen Zeit und Wetter. Wir wissen, dass unsere Zeit begrenzt ist. Spätestens Mitte August müssen wir wieder in See stechen, um nicht in die Herbststürme des Nordatlantik zu geraten – und schliesslich haben wir auf der Herfahrt am eigenen Leib erfahren, wie instabil das Wetter dieses Jahr ist.
Zuerst müssen wir den Zustieg zu unserer Wand finden und stehen dabei schnell vor dem ersten Hindernis: ein stark zerklüfteter Gletscherbruch. Weit klaffende Spalten ragen hier vor uns in die Höhe. Nach sechs Wochen auf dem Boot finden wir uns direkt in der wilden, ausgesetzten Bergwelt wieder. Als wir an den Wandfuss gelangen, wollen wir am liebsten sofort losklettern. Doch solch anspruchsvolle Kletterei erfordert so einiges an Material – und das muss erstmal hergeschleppt werden. Zwei Tage verbringen wir damit, schwere Rucksäcke von A nach Basislager zu tragen. Wir sind erschöpft. Wir schuften und schleppen, um möglichst bald mit dem Klettern beginnen zu können.
«Sekunden kommen uns vor wie eine Ewigkeit, der Eisbär schaut uns an und scheint genauso überrascht.»
Es folgt ein weiterer Rückschlag: Der Vorhersage zum Trotz beansprucht der Regen noch einen weiteren Tag für sich, was uns zu zwei Tagen im Basislager zwingt. Und wieder heisst es: warten und an unserer Geduld arbeiten. Immerhin bekommen wir Besuch von einem Eisbären. Ein gutes Mittel gegen Langeweile. Das grosse majestätische Raubtier steigt plötzlich 50 Meter von uns entfernt aus dem Wasser und hievt sich auf den Strand, an dem wir gerade gemütlich frühstücken. Der Schreck ist gross, da wir nicht wissen, wie er reagieren wird. Sekunden kommen uns vor wie eine Ewigkeit, der Eisbär schaut uns an und scheint genauso überrascht. Auf Nadias Ausruf: «L´ours !!!», flüchtet er. Zu unserem Glück. Wir waren auf solche Momente vorbereitet und doch lässt uns die Überraschung mit weichen Knien zurück.
«Während es am Anfang gut vorwärts geht, werden wir dann plötzlich ausgebremst: Die Wand wird steiler, hier und da verlaufen die Risse im Nichts.»
Dann endlich ein Tag Sonne und wir steigen zur Wand auf. Am Folgetag möchten wir sie in Wechselführung Seillänge für Seillänge erstbegehen. Während es am Anfang gut vorwärts geht, werden wir dann plötzlich ausgebremst: Die Wand wird steiler, hier und da verlaufen die Risse im Nichts. Wir arbeiten uns langsam Meter für Meter vor, teils in nassem Fels, teils technisch. Die Kletterei ist anspruchsvoll und verlangt unsere volle Konzentration ab. Aber genau diese Herausforderung haben wir schliesslich gesucht – und so wird neben dem Adrenalin auch eine gute Portion Glückshormone ausgeschüttet. Wir haben nur knapp drei Tage gutes Wetter bis der nächste Schneesturm durchzieht. Die Wand ragt steil über uns in den Himmel und mit so wenig Zeit scheint es unmöglich, sie durchzuklettern. Am zweiten Tag erreichen wir ein Band, weit oben über dem Gletscher, auf dem wir biwakieren und unsere Portaledges einrichten. Ab hier wird die Kletterei etwas leichter, wir kommen jetzt schneller vorwärts, erreichen tatsächlich den Grat und können aus der Wand aussteigen. Unglaublich. Nach so viel Ungewissheit geht unser Traum in Erfüllung. Wir haben die bisher unbezwungene Ostwand des Northern Sun Spire durchgestiegen. Wir sind 780 Meter geklettert, 16 Seillängen bis ca. 7b+ (es blieb keine Zeit mehr, die komplette Tour frei zu klettern) und taufen unsere Route «Via Sedna».
Nun heisst es abseilen und unser ganzes Material zurück zum Strand schleppen, wo das Rendezvous mit den Seglerinnen geplant ist. Zum Glück gibt es hier oben keine Dunkelheit und wir sind 24/7 non-stop aktiv. Es folgt ein weiterer Monat auf dem Boot, nach wie vor gekennzeichnet durch Stürme, Regen, Abwarten – aber auch mit extrem viel Lachen dank dieses super Teams. Eine Expedition geprägt von schlechtem Wetter, das uns viel Geduld abverlangt hat, doch auch ein grosses Abenteuer mit unglaublichen Menschen. Drei Tage klettern während drei Monaten Expedition. Welch lange Anreise für so wenig Zeit in der Vertikalen, und trotzdem hat es sich gelohnt. Und so kehren wir um viele Erfahrungen und Herausforderungen reicher von einer Expedition nördlich des Polarkreises wieder zurück nach Hause.