Jetzt ansehen: "L'Envol" mit Katherine Choong
Katherine Choong, die erste Schweizerin, die eine 9a Route durchstieg, sucht eine neue Herausforderung. Diese Herausforderung heisst «Fly», ist 550m lang, besteht aus 20 Seillängen – davon die obersten drei in der Schwierigkeit 8b, 8c und 8b+ – und liegt in Lauterbrunnental in der Schweiz. Katherines Film «L’envol» erzählt, wie die Athletin am mentalen und körperlichen Limit klettert, und welche Herausforderungen und GlĂĽcksmomente eine Seilschaft mit dem eigenen Partner mit sich bringt.Â
Ein persönlicher ErfahrungsberichtÂ
Nach rund zwanzig Jahren Klettererfahrung, sowohl im Sportklettern als auch im Wettkampf, brauchte ich eine neue Herausforderung. 2021 begann ich mich schwierigen Mehrseillängenrouten zu widmen – mit Erfolg. Zwei Jahre später hatte ich erfolgreich mehrere schwierige Routen, darunter «Hattori Hanzo» 8b+ (280 m) und «6.4 Sekunden» 8b/+ (170 m) durchstiegen und fühlte mich bereit, endlich das Unmögliche zu versuchen: Fly.
Film ansehen:
Katherine Choong beim Durchstiegsversuch der Mehrseillängenroute Fly (8c, 550m) im Lauterbrunnental, Schweiz.Â
Was ich am Felsklettern liebe, ist, dass Konkurrenz keinen Platz hat. Die Herausforderung besteht nur darin, sich selbst zu ĂĽbertreffen und das Beste aus sich herauszuholen – den eigenen Körper in perfekter Harmonie mit dem Geist zu spĂĽren, um Leistungen zu vollbringen, die man nicht fĂĽr möglich gehalten hätte. Das erfordert, unentdeckte Ressourcen in sich zu finden, fĂĽr die komplexen Probleme, die der Fels vorgibt, Lösungen zu entwickeln und weiter an sich zu glauben, wenn es unmöglich scheint. Wenn wir so nah an den Grenzen unserer Leistungsfähigkeit sind, ist es vor allem die UnterstĂĽtzung des Partners, die es ermöglicht, das Top zu erreichen. Das gemeinsam erlebte Abenteuer, die Emotionen wie Angst, Zweifel, aber auch Freude, die Momente der Verbundenheit und des persönlichen Wachstums verbinden uns auf besondere Weise und prägen unsere Erinnerung mit unvergesslichen Erlebnissen. Ich habe mich noch nie allein mit meinen Herausforderungen gefĂĽhlt. Deshalb brauchte ich fĂĽr dieses Projekt die Person an meiner Seite, der ich am meisten vertraue: meinen Partner Jim Zimmermann.Â
Klettern als Paar ist die beste Therapie, die man sich wĂĽnschen kann! Angesichts der Schwierigkeiten muss man lernen zu kommunizieren, klar zu denken und die Gedanken konstruktiv auszudrĂĽcken. Wenn du in 500 m Höhe hängst, kannst du nicht einfach den anderen anschreien oder aufhören, mit ihm zu reden. Man muss gemeinsam eine Lösung finden, um die Hindernisse zu ĂĽberwinden und die Route zu schaffen.Â
Bei unseren ersten Versuchen von «Fly» fĂĽhlte sich jede Bewegung extrem schwer an. Ich war ungefähr so nah dran, die Route zu meistern, wie ich es wäre eine Einhornparade zu sehen. Doch Tag fĂĽr Tag verbesserte sich unsere Technik, wir gewöhnten uns an die Bewegungen und machten Fortschritte – bis wir schlussendlich bereit waren, einen Durchstieg zu versuchen.Â
Wir begannen um 6:30 Uhr morgens zu klettern und schafften an Tag eins die ersten 16 Seillängen (mehrheitlich zwischen 7b und 7c+), sowie die 17. Seillänge (8b) kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Unser Plan war es, auf einem Portaledge zu schlafen und am zweiten Tag die drei letzten und schwierigsten Seillängen zu klettern.Â
Beim Aufwachen spĂĽrte ich meinen erschöpften Körper, der mich anflehte, aufzugeben. Zweifel breitete sich aus. FĂĽr einen Moment liess ich mich vom Wunsch ĂĽberwältigen, aufzugeben. Doch Jim fand die richtigen Worte, um mich zu unterstĂĽtzen und mir die Kraft zu verleihen, alles zu geben. Ich startete einen ersten Versuch in der SchlĂĽsselstelle (19. Seillänge, 8c) und fiel in der ersten schwierigen Passage. Keine Panik. Ich hatte noch etwas Kraft fĂĽr einen letzten Versuch. Ich zog mich in meine eigene Welt zurĂĽck, und ruhte mich eine Stunde aus. Ich vertrieb den Druck, der auf mir lastete, und gewann mein Selbstvertrauen zurĂĽck. Als ich diese Seillänge erneut anging, verschwand die Angst bei den ersten Bewegungen. Es gab nur noch die Wand und mich. Ich meisterte die erste Crux, aber ich spĂĽrte die Erschöpfung in meinen Armen. Ich kämpfte mich weiter und unterdrĂĽckte den Wunsch, aufzugeben, loszulassen. Bei jedem Griff schĂĽttelte ich meine Arme. Ich erreichte die letzte Crux, nur wenige Meter vom Stand entfernt. Ich glaubte so fest daran, ich spĂĽrte Jims Ermutigungen, die mich trugen, ich gab alle Kraft, die mir blieb… Und dann fiel ich, eine Exe vom Top entfernt. Meine Enttäuschung und Frustration waren kaum in Worte zu fassen. Ich hatte mein Ziel mit den Fingerspitzen berĂĽhrt, aber es doch nicht erreichen können. In den folgenden Wochen regnete es in der Schweiz. FĂĽr uns bedeutete das: keine Chance fĂĽr einen neuen Versuch.Â
Ich habe das GefĂĽhl, dass ich die Möglichkeit akzeptieren muss, mein Projekt dieses Jahr nicht zu schaffen. Vielleicht werde ich es sogar nie schaffen? Wenn ich meine Komfortzone verlasse und mich einer «unmöglichen» Herausforderung stelle, fĂĽhrt die Angst vor dem Scheitern manchmal dazu, dass ich nicht mehr in meine Fähigkeiten vertraue. Ich fĂĽhle mich verletzlich und hinterfragen die Sinnhaftigkeit. Warum sollte ich so viel Zeit und Energie investieren, wenn ich nicht in der Lage bin, das Ziel zu erreichen? Es ist diese leise Stimme in meinem Kopf, die fragt: Habe ich mir zu hohe Ziele gesetzt? Bin ich gut genug?Â
Sich auf ein schwieriges Projekt einzulassen, ist manchmal ein komplizierter Prozess, der einen dazu zwingt, seine Emotionen zu erkunden. Mein Weg, mit diesem Druck umzugehen, besteht darin, mich daran zu erinnern, dass ich es letztendlich tue, weil mich das Klettern glĂĽcklich macht – unabhängig davon, ob ich es schaffe oder nicht. Und die Magie eines Projekts, die wahre Herausforderung, besteht fĂĽr mich darin, dass ich im Voraus nicht weiss, ob ich es schaffen werde. Insbesondere wenn es anfangs so unmöglich erscheint. Diese Route hat mich gelernt, mit der Frustration umzugehen, wenn etwas nicht auf Anhieb gelingt und dabei stets das Vertrauen in mich selbst zu bewahren. FĂĽr mich war das Projekt ein Erfolg: Ich habe mich herausgefordert, habe gemeinsam mit meinem Partner unglaubliche Erinnerungen geschaffen und dabei richtig viel Spass gehabt. Und, ich werde zurĂĽckkehren.  Â
Ein grosses Dankeschön an meinen Partner Jim, ohne den nichts möglich gewesen wäre, an Nicolas Falquet, der uns Meter um Meter per Steigklemme am Seil gefolgt ist, um dieses Abenteuer mit der Kamera zu einzufangen, an meine Sponsoren und an die Eröffner dieser drei aussergewöhnlichen Routen (Roger Schäli, Michel Pitelka, Markus Iff, Bernd Rathmayr, Mäx Grossman, Stephan Eder und Matthias Trottmann).Â