Heavy Metal: die BrĂĽder, die die Schweiz erschlossen
06/2022
06/2022
@Silvano Zeiter
Silvano Zeiter
Ashleigh Maxwell
Alles begann 1969 mit zwei Teenagern, die in einem abgelegenen Tal oberhalb des Schweizer Montreux Metallhaken in einen sieben Meter hohen Felsblock hämmerten. Über die letzten fünf Jahrzehnte haben die Brüder Yves und Claude Remy den modernen Klettersport geprägt.
Durch das Eröffnen neuer Routen in der Schweiz seit 1970 wurden die Remy-Brüder zu Wegbereitern des Kletterns als Breitensport. Seitdem haben sie eine beeindruckende Anzahl an Erstbegehungen und tausende von legendären Routen auf der ganzen Welt mit rund 15.000 Seillängen erschlossen. In der Schweiz gibt es wohl keine der höheren Wände, die nicht vom unermüdlichen Erkundungsdrang der Remy-Brüder geprägt wurde – von Les Diablerets über Sanetsch, Grimsel, Gastlosen bis hin zu den Wendenstöcken. Über 100 Bücher haben sie über produktives Schaffen geschrieben oder an ihnen mitgewirkt. Heute gibt es kaum ein Klettertopoder Alpen, in dem nicht eine Route des legendären Bruderpaars verzeichnet ist. Dank der ungefilterten und letztlich unerschütterlichen Verbundenheit, wie sie nur Geschwister teilen können, haben die Remy-Brüder zum Klettersport in der Schweiz vielleicht mehr beigetragen als sonst eine Kletterin oder ein Kletterer vor ihnen – und sie sind noch nicht fertig. Wir haben uns mit Claude Remy zusammengesetzt, um über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sprechen.
Womit hast du die letzte Zeit verbracht?Â
Claude Remy: Leider nicht genug geklettert, denn ich arbeite mit Hochdruck an einem neuen Buch ĂĽber den Miroir de l’Argentine [eine Wand im Westen der Schweizer Alpen]. Wir haben 1997 ein Buch darĂĽber geschrieben, und jetzt wollten wir etwas Neues machen, weil es viele gute Geschichten gibt, wie die meines Vaters ↗ zum Beispiel. Wusstest du, dass er den Miroir mit 94 Jahren geklettert ist? Â
Ja, natĂĽrlich. Eine unglaubliche Leistung. Wann hast du angefangen, mit deinem Vater zu klettern? Â
Marcel hat uns schon sehr frĂĽh in die Berge mitgenommen, einfach zu Fuss. 1964 haben wir angefangen, gemeinsam am Seil zu klettern.
«Du kommst dort an und dann gibt es weit mehr als nur einen Kamin, und keine Ahnung wie viele Rampen und Felsen. Du schaust dir also diese Wand an und denkst: «Scheisse».»
Wie sahen die Abenteuer mit deinem Vater aus? Â
Als wir anfingen, war alles noch ganz anders. Wir hatten für alles dasselbe Paar Schuhe – Wandern, Klettern, Skifahren. Klettergurte gab es keine. Das Seil wurde uns um die Hüfte gelegt und wir sicherten mit der Hand. Das war anstrengend und die Tage waren zu lang. Wir mussten mit dem Minimum an Ausrüstung und Zeit immer das Maximum rausholen, das war sein Motto. Natürlich haben Yves und ich das später so übernommen, aber nicht auf dieselbe Weise. Weisst du, als mein Vater hier in der Gegend seine ersten Bergtouren machte, sind sie entweder zu Fuss gegangen oder aber mit dem Fahrrad oder der Minenbahngefahren. Um das Geld für die Bahn zu sparen, sind sie jedoch einfach gelaufen. Eine andere Welt, die man sich heute kaum vorstellen kann. Ausserdem hatten sie überhaupt keine Informationen, nur einen Freund, der fragt: «Lust, den Miroir zu klettern?». Jemand anderes hätte ihnen gesagt, dass man nach der langen Verschneidung dem Kamin folgt, an der Schrägenach rechts traversiert, bevor es dann gerade raufzum Gipfel geht. Das wars. Kein Topo. Keine Bilder. Nichts. Kannst du dir das vorstellen? Du kommst dort an und dann gibt es weit mehr als nur einen Kamin, und keine Ahnung wie viele Rampen und Felsen. Du schaust dir also diese Wand an und denkst: «Scheisse». Oh, und wie viele Eisenhaken? Vielleicht drei oder vier. Das war noch etwas ganz anderes. Das Kletterseil meines Vaters war dasselbe, das er zum Tragen von Essen oder trockenem Gras benutzte. Er selbst hatte es von seinem Vater bekommen.
Wann hast du angefangen, selbst zu klettern? Â
Mein Vater wurde 1969 am RĂĽcken operiert und war dadurch zwei oder drei Monate lang ausser Gefecht. Also fragten wir ihn, ob wir mit seiner AusrĂĽstung klettern könnten – seinem Seil, seinen Karabinern und Haken. Er war nicht allzu erfreut, sagte aber ja. Ich war also 16 und Yves 13, als wir anfingen, neue Routen zu klettern. Â
Wann wurde es dann ernst? Â
Nach unserer Ausbildung, mein Bruder als Klempner und ich als Mechaniker, wollten wir beide so viel wie möglich klettern, und uns wurde klar, dass ein Halbtagsjob ausreichen würde. Andere kletterten am Wochenende, wir nahmen uns unter der Woche ein, zwei Tage zusätzlich dafür. Zu dieser Zeit bedeutete das, dass wir schnell besser wurden als alle anderen in der Gegend. Okay, vielleicht nicht besser, aber aktiver.
Einige Jahre lang hatten wir keine genaue Vorstellung davon, was wir machen wollten. Später, Anfang der 80er-Jahre, wurden wir gute Freunde von [dem französischen Kletterer] François Guillot. Er war einer der Besten und erschloss 50 neue Routen pro Saison. Wir schafften vielleicht 10 oder 20, also war das unser neues Ziel. In der nächsten Saison erschlossen wir dann etwa 80 Routen. Zeitgleich begannen wir, mehr an gutem Fels mit Bohrhaken zu klettern. Wir beschlossen, in diese Richtung aktiver zu werden, anstatt uns auf alpine Routen zu fokussieren. Also suchten wir nach geeigneten Linien und konnten sehr schnell neue Routen bohren. Wie in Eldorado kletterten wir an einem Tag einfach mal 15 neue Seillängen. Es ging schnell. Motörhead [6a+/5.10b 500m] haben wir mit nur 11 Bohrhaken gemacht.Â
Wie hat sich die AusrĂĽstung weiterentwickelt? Â
Als wir anfingen, mehr zu klettern, hatten wir noch nicht einmal einen Klettergurt. In den 70er- bis 80er-Jahren begannen wir, Kletterausrüstung in Chamonix zu kaufen. Wir fanden Stahlhaken in den USA und Keile in England. All diese verschiedenen Kletterstile mischten wir, um neue Routen zu bauen. Dadurch wurden wir schneller und hatten eine Menge Ausrüstung – für jedes Problem das Richtige. Kurz darauf trafen wir [Produktmanager] Albert Wenk von Mammut. Er wies uns darauf hin, Bohrhaken anstelle von Normalhaken zu verwenden. Das sei sicherer, meinte er. Wir hatten aber keine Bohrhaken, also gab er uns, was wir brauchten. Zu dieser Zeit gab es nur sehr wenige davon. Und so beganner, unser Draht zu Mammut. Mit der Zeit wurden wir auch in Produkttest einbezogen, halfen mit, auch Seile und Gurte zu verbessern.
Was macht deine Partnerschaft mit Yves so stark?Â
Wir haben wirklich Glück. Seit über 50 Jahren müssen wir über nichts mehr reden. Wir gehen einfach los und es passt. Wir müssen nicht sagen: «Na, was denkst du? Nehmen wir noch dies oder das mit? Gehen wir dort oder woanders hin?» Wir fahren einfach los und basta. Mein Bruder war immer der Stärkere. Ich hinkte immer hinterher. Das war verdammt schwer für mich. Er war einfach unglaublich – ein extrem guter Onsight-Kletterer. Er hat sie alle beeindruckt.
« Ich halte mich der Gefahr generell fern, nähere mich ihr nur noch selten und wenig, um mal wieder einen schüchternen Blick in den Abgrund zu werfen. So ist das Leben.»
Wirst du in Marcels Alter noch klettern? Â
Ehrlich gesagt, ich glaube, das ist schwer vorstellbar. Man braucht für so viele Dinge eine Menge Glück. Man muss sein Glück bewahren, darauf aufpassen, und auch darauf, mit wem man seine Zeit verbringt. Ich möchte keine Zeit mit schlechten Menschen oder schlechten Momenten verschwenden. Sobald ich mich unwohl fühle, stehe ich auf und gehe weg.
Hat dieses GlĂĽck dir dabei geholfen, all die Jahre weiterzuklettern? Â
Ja, wir hatten Glück, aber daran muss man auch arbeiten. Natürlich gab es verrückte Situationen: Spaltensturz auf dem Gletscher, ich stürze und verliere das Bewusstsein, Lawinen, Biwaks in verrückten Situationen – ich bin in den Bergen sogar mal vom Blitz getroffen worden. Wir haben viel erlebt, und ich glaube, wir haben viel Glück gehabt. Aber wir passen auch auf unser Glück auf. Daran muss man immer denken. Wenn man einer kritischen Situation lebendig entkommt, denkt man sich: «Das war das letzte Mal.» Aber dann gehts wieder los, indem man einen Fehler macht oder zu nah an den Abgrund geht, zu nah ans Risiko. Das ist es, wonach wir im Leben suchen – ein bisschen aufregend ist das schon. Heute, in meinem Alter, bin ich nicht mehr so verrückt, aber ein bisschen eben doch noch (lacht). Ich halte mich der Gefahr generell fern, nähere mich ihr nur noch selten und wenig, um mal wieder einenschüchternen Blick in den Abgrund zu werfen. So ist das Leben.
«Gute Erinnerungen zu haben ist etwas Schönes – besser ist es jedoch, weiterzumachen.»
Gibt es bestimmte Routen, von denen du noch träumst? Â
(lacht) Viele. In meinem Kopf ist das verrĂĽckt. Das geht die ganze Zeit so. Ich habe immer noch die Liste, die ich seit vielen Jahren habe, und manchmal kann ich etwas abhaken. In Griechenland gibt es noch viele solcher Orte. Wir sind Wahnsinnige. Es gibt Sexbesessene, aber wir sind Felsbesessene oder Bolzenbesessene (lacht).
Hast du eine Lieblingsroute? Â
Motörhead oder Septumania [6a+/5.10b 550m]. Die gehören zu den besten Routen der Welt, sind einfach unglaublich. Aber es gibt viele davon. Als wir Motörhead geklettert sind, haben wir sie und drei andere neue Routen in vier Tagen geklettert. Das war wie eine Besessenheit. Die hier wär geschafft, schön wars ... und weiter.
Schaust du jetzt öfter auf eure Kreationen zurĂĽck? Â
Nein, ich schaue immer noch nach vorne und will mehr machen. Gute Erinnerungen zu haben ist etwas Schönes – besser ist es jedoch, weiterzumachen (lacht). Ich arbeite gerade an einer Route auf der rechten Seite des Miroir, sie heisst 'Sully'. Das sind 27 Seillängen – eine lange Route, die ich mit einem guten Freund präpariere. Sie kostet so viel Energie! Aber wenn sie fertig ist, werde ich mich sicher nach der nächsten Route umsehen.
Die Remy-BrĂĽder sind seit 1981 Mammut-Athleten.
«Ich hörte von unserem Vertreter in der französischen Schweiz von zwei Brüdern, die jung und sehr stark in schwerer Alpinkletterei waren. Ich besuchte die beiden zu Hause. Bei meinem ersten Treffen war es nur Claude, der mit mir sprach. Yves war im selben Raum, sass aber fünf Meter entfernt, sagte fast nichts und war sehr kritisch. Mit Claude habe ich mich den ganzen Nachmittag unterhalten, und beschlossen schliesslich, zusammenzuarbeiten. Ich konnte ihnen kein Geld geben, aber ich konnte ihnen Produkte geben. Alles, worum ich bat, war ihr Feedback. Für jedes Produkt, das ich ihnen gab, erhielt ich von jedem der beiden einen perfektes Report. Das war etwas ganz Besonderes. Yves, der anfangs sehr kritisch war, begann, mich alle zwei, drei Wochen bei Mammut mit gebrauchten Produkten und seinen Ideen zu besuchen. Für Alpinisten und Kletterer haben die Remys viel getan, sie haben Klettern zugänglich gemacht. Die beiden haben Geschichte geschrieben.»
Albert Wenk
Mammut