Über
die
Grenzen
des
Lehrbuchs
hinweg

Schnee

@ Tim Banfield

Tim Banfield

Alex Phillips

Tim Banfield stellte sein LVS-Gerät auf «Suche», um seine Freundin Michelle Kadatz zu finden, die vier Meter unter ihm verschüttet war. Vom ersten Moment an wusste er, dass diese Rettung über die Grenzen des Lehrbuchs hinausgehen würde.

In einem Lawinenkurs lernt man, was zu tun ist, wenn die Dinge nicht nach Plan laufen. In einem echten Notfall ist jede Situation aber anders. Fotograf und Eiskletterer Tim Banfield war mit den zwei befreundeten Kletterinnen Michelle Kadatz und Maia Schumacher auf Tour. Es sollte ein entspannter Tag werden, an dem sie ein paar Routen auskundschafteten. Sie übersahen jedoch die Warnzeichen – steigende Temperaturen und subtile Details im Lawinenlagebericht – und so nahm der Tag eine unerwartete Wendung. Eine Lawine begrub Michelle vier Meter tief unter sich. Was dann folgte, war eine der tiefsten Kameradenrettungen der Geschichte. Im Anschluss an unseren Kurzfilm «Four Meters Deep» sprachen wir mit Tim darüber, wie er und Maia das geschafft haben, was für viele unmöglich schien, und welchen Einfluss er sich von ihrer Geschichte auf die Vermittlung von Rettungsprotokollen erhofft.

FILM ANSEHEN | ASPECTS | GESCHICHTEN AUS DEM LAWINENGELÄNDE | EP. 03: FOUR METERS DEEP

Was war an diesem Tag geplant?

Eigentlich stand ein Eiskletter-Shooting auf dem Plan. Morgens um 7:00 Uhr erhielt ich aber eine Nachricht oder einen Anruf von Maia und Michelle, die mich fragten, ob ich sie begleiten möchte. Sie wollten in ein bestimmtes Gebiet, weil sich Michelle dort zwei Routen zum Alpin- und Eisklettern ansehen wollte, und ich dachte, ich könnte die Eiskletterroute vom Boden aus filmen – also ging ich mit.


An diesem Tag habt ihr eure Skitour auf einer präparierte Langlaufspur begonnen, von der ihr wusstet, dass sie im Sommer zu den beliebtesten Wanderrouten in den Rocky Mountains zählt. Glaubst du, dass ihr deshalb ein wenig unachtsamer wart?

Genau vor dieser Art Gelände hat der Lawinenlagebericht gewarnt. Ich habe es aber überlesen, weil ich ihn nur kurz angeschaut habe. Die Sache ist: Diese Location ist im Sommer extrem beliebt und in diesen Monaten auch nicht wirklich gefährlich – das ändert sich aber im Winter. Der Abschnitt, in dem die Lawine abging, ist steil und überhaupt nicht gestützt. Beim Wandern oder Trailrunning bemerkt man das aber nicht unbedingt, denn durch die Serpentinen fühlt es sich nicht steil an und der gesamte Hang umfasst nur 300 oder 400 Meter. Dennoch ist dieses Gelände nicht zu unterschätzen, besonders im Winter.

«Und
ich
stand
einfach
da
und
dachte:
Das
wird
ganz
sicher
nie
passieren.
Entweder
wir
schaffen
ihr
einen
Atemweg
oder
sie
stirbt.»

Nachdem sich die Lawine löste, bist du auf dem Weg nach unten zu Michelle und Maia ausgerutscht und gestürzt. Was ging dir in diesem Moment durch den Kopf?

Ich dachte darüber nach, wie ich unverletzt aus dieser Sache rauskommen würde. Selbst eine kleine Verletzung wie ein verstauchtes Handgelenk hätte schon bedeuten können, dass Michelle nicht überlebt, weil ich beim Schaufeln langsamer gewesen wäre. Der Spielraum für unseren Erfolg war sehr klein.



Ihr wart zu zweit und hattet eine Rettung aus vier Metern Tiefe vor euch. Was waren deine ersten Gedanken darüber, wie ihr das angehen wollt?

Bei tiefen Verschüttungen wird einem oft beigebracht, dass eine kleine Gruppe hilft, damit man einen koordinierten Plan hat und sich beim Schaufeln abwechseln kann, um Kraft zu sparen. Und ich stand einfach da und dachte: «Das wird ganz sicher nie passieren. Entweder wir schaffen ihr einen Atemweg oder sie stirbt.» Ausserdem mussten wir so schnell wie möglich zu ihr gelangen, ohne dass das Loch über uns einstürzte. Wir haben einen Meter nach unten gegraben und dann eine Rampe gebaut, um den Schnee wegzukriegen. So fiel er nicht wieder auf uns. Auf vier Metern hatten wir dann drei Plattformen. Ich habe nach unten geschaufelt, Maia hat den Schnee weg befördert.

«Wenn
so
etwaswie
hier
passiert,
muss
man
schnell
und
klug
handeln.
Und
zwar
mit
den
Ressourcen,
die
vorhanden
sind.»

Am meisten hat mich das Körperliche hinter dem Ganzen verwundert, als ich den Bericht gelesen und die Bilder gesehen habe. Kannst du genau beschreiben, wie ihr euch bewegen musstet?

Wir haben im Grunde nur Kniebeugen gemacht und dabei unter den Füssen geschaufelt und nicht auf Hüfthöhe. Bei den letzten 50 bis 100 Zentimeter war ich sozusagen kopfüber und habe versucht, über meine Schulter zu schaufeln – mit Absicht, um keine Zeit zu verlieren. Als wir Michelles Atemwege dann endlich freigelegt hatten, waren wir natürlich noch weit davon entfernt, sie ganz herauszuholen. Deshalb habe ich ihren Kopf mit einem provisorischen Zelt abgedeckt, damit ihr Gesicht nicht wieder verschüttet wird.



Haben Maia und du während der Rettung auch über eure eigene Sicherheit nachgedacht?

Kurz gesagt: Ja. Wir hatten natürlich Bedenken wegen Sekundärlawinen und haben auch darüber gesprochen. Auch wenn du mitten in der Rettung steckst, gibt es weiterhin Gefahren.



Was war mit der Kälte? Neben all dem, was vor sich geht, ist es ja gerade bei Rettungen im Winter essentiell, die Körpertemperatur von Patient:in und Rettenden im Blick zu behalten, damit man nicht unterkühlt.

Als wir Michelle ganz freigeschaufelt hatten, haben wir ihr unsere Jacken gegeben, damit sie nicht unterkühlt. Somit hatte ich aber nur noch einen sehr durchgeschwitzten Baselayer an. Und als der Helikopter landete, war ich derjenige, dem eiskalt war. Einmal musste ich sogar aufhören und etwas trinken, weil ich so stark krampfte. In diesem Moment entstanden die Fotos.

Hat sich an deiner Packliste seither etwas geändert?

Zu dritt hatten wir ein Kommunikationsgerät mit Empfang dabei – ein inReach – und das hatte Michelle. Glücklicherweise war es ganz oben in ihrem Rucksack, also ganz nah an ihrem Kopf. Aber weder Maia noch ich wussten, wie es funktioniert, also haben wir Zeit verloren. Heute würde ich in einer Dreiergruppe mindestens zwei Kommunikationsgeräte mitnehmen. Und eine dicke Daunenjacke würde ich einpacken. Auch wenn du unterwegs keine langen Pausen machst und zusätzliches Gewicht vermeiden möchtest – eine Nacht im Freien willst du wirklich nicht nur in einer dünnen Jacke verbringen.



Das sind überwältigende Beispiele dafür, wie kleine Details einen Tag in den Bergen verändern können. Was möchtest du den Leser:innen mit dieser Geschichte mitgeben?

Trotz der niedrigen bis moderaten Lawinenwarnstufe, und obwohl wir dachten, es wäre eine entspannte Tour, gab es im Nachhinein jede Menge Gründe, warum wir nicht hätten dort sein sollen. Zuvor ging man aber immer davon aus, dass man einen strukturierten Plan und einigen Personen braucht, um bei einer so tiefen Verschüttung überhaupt Überlebenschancen zu haben. Ich glaube, unsere Geschichte zeigt, dass es noch einen anderen Weg gibt. Ich habe seitdem mit Lawinen- und Rettungsexpert:innen aus der ganzen Welt gesprochen und hoffe, dass man an unserem Vorfall sieht, wo man oft Zeit verliert, und dass man nicht immer einem strengen Protokoll folgen muss. Wenn so etwas wie hier passiert, muss man schnell und klug handeln. Und zwar mit den Ressourcen, die vorhanden sind.