Toto:
der
Erste,
den
ich
an
die
Berge
verlor

Thomas Ulrich

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Thomas Ulrich

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Stephan Siegrist with Ashleigh Maxwell

Alpinist Stephan Siegrist erzählt von seinem verstorbenen Mentor, dem berühmten Big-Wall-Kletterer Xaver Bongard, und der bewegenden Begegnung mit seiner aussergewöhnlichen Persönlichkeit, die ihn zu einem Leben am Limit inspirierte.

1991 lernte ich Xaver Bongard in Interlaken kennen. Ich war 19 Jahre alt, hatte gerade die Schule abgeschlossen, war rund um die Uhr am Klettern und dachte darĂĽber nach, mit dem BergfĂĽhrerlehrgang zu beginnen. Der Mann meiner Schwester war der Bruder von Xavers Freundin Annabel. Sie wohnten alle zusammen in einer Wohnung. Bei ihrem Einzug habe ich Xaver zum ersten Mal getroffen.  
Xaver hatte den Dachboden beschlagnahmt – ein Raum, in dem mir als junger Berg-Freak die Kinnlade herunterklappte. Verstreut über den ganzen Dachboden lag Bergsteigerausrüstung aller Art: Pickel Steigeisen, Seile, Bergschuhe und lauter Kleinmaterial wie Klemmgeräte, Keile und Copperheads. Wie ein chaotisches Sportgeschäft, das mein Herz höherschlagen liess. Ich hatte grosse Ehrfurcht vor Xaver. Doch er empfing mich wie einen alten Freund. Er war herzlich und offen. Ich spürte sofort, dass die Chemie zwischen uns stimmte.

Eisklettern

Xaver war neun Jahre älter als ich, was mir damals als ziemlich viel vorkam. In der hiesigen Bergsteigerszene war er kein Unbekannter mehr. Und durch seine Abenteuer im Yosemite, insbesondere eine Reihe von Erstbegehungen am El Cap, wurde er auch in den USA zu einer bekannten Grösse. Er war zweifellos einer der renommiertesten – und schillerndsten – Big-Wall-Fels- und Eisspezialisten der damaligen Zeit. Als er mir anbot, mit ihm zu trainieren und zu klettern, empfand ich das als grosse Ehre. Warum sollte Xaver mit mir – einem jungen, vergleichsweise unerfahrenen und völlig unbekannten Kletterer – klettern gehen wollen? Aber wie ich später erfuhr, war das einfach Xaver. Ich war jung und motiviert.

Das war es wohl, was er respektierte. Er sah mich nicht als jemaden, von dem er profitieren konnte. Ich glaube, er wusste es zu schätzen, dass ich ihn so sah, wie er war. Trotz des Altersunterschieds verstanden wir uns prächtig und waren regelmässig zusammen in Fels und Eis unterwegs. 

In den folgenden Jahren habe ich viel von Xaver gelernt. Er wurde mein Mentor – nicht nur was das Technische anbelangte, sondern auch seine Lebenseinstellung. Ihm war es egal, was andere Leute ĂĽber ihn dachten. Er lebte seine Leidenschaft und strebte nach dem einfachen Leben. Er tat das, was er liebte. Das spiegelte sich in jedem Teil seiner Person wider, auch in seinem abgefahrenen Sinn fĂĽr Humor. Ich schaute zu dem Leben auf, das er sich selbst geschaffen hatte, und bewunderte ihn dafĂĽr, dass er seinen eigenen Weg mit solch ungebändigter Freiheit ging. 

«Ihm
war
es
egal,
was
andere
Leute
ĂĽber
ihn
dachten.
Er
lebte
seine
Leidenschaft
und
strebte
nach
dem
einfachen
Leben.
Er
tat
das,
was
er
liebte.» 

Toto – so nannten ihn die Menschen, die ihm nahe standen. Und zu einer Zeit, in der ich anfing herauszufinden, wie mein eigenes Leben aussehen sollte, wurde er fĂĽr mich zu einem wichtigen Freund. Ich bin in einer eher traditionellen Familie aufgewachsen, in der das Klettern keinen Stellenwert hatte. So habe ich erst relativ spät zu diesem Sport gefunden, war aber wie besessen davon, und ich setzte alles daran, so viel wie nur möglich zu klettern und in den Bergen zu sein. Toto war fĂĽr mich der Beweis, dass ich mich nicht an irgendwelche Regeln zu halten hatte, dass ich mir das Leben, das ich wollte, einfach zu erschaffen brauchte. Er hat seine eigenen Regeln aufgestellt und ist seinen eigenen Weg gegangen. Er ist seinem Herzen gefolgt. Ich erinnere mich noch genau daran, wie er in seiner alten Wohnung auf einmal ein Fondue machen wollte. Er hatte so einen Hängegaskocher, bloss keine Möglichkeit, den aufzuhängen. Also bohrte Toto kurzerhand ein Loch in die schöne Decke seines Zimmers. NatĂĽrlich fand er in seinem Durcheinander von Werkstatt auch sofort die passende Schraube und das Problem war gelöst. 

So war er eben. Nichts konnte sich ihm in den Weg stellen. Er war frei von Erwartungen und ging ohne Hemmungen dem nach, was er wollte. 

1992 gelang Xaver zusammen mit John Middendorf die Erstbesteigung des Nordostpfeilers des Great Trango Tower im Karakorum. Als er von der Expedition zurĂĽckkam, schmiss er eine grosse Feier und schenkte mir ein Poster vom Pfeiler, das ich heute noch besitze. Darauf schrieb er: «Bald bist du an der Reihe fĂĽr grosse Expeditionen». Xaver war zurecht stolz auf seinen Ehrgeiz, blieb dabei aber immer bescheiden. Die Tatsache, dass er mich unter seine Fittiche nahm, war fĂĽr mich vielleicht das beste Beispiel dafĂĽr, wie er war. Er inspirierte. Wer auch mit ihm in Kontakt kam, empfand das so. Ständig am Pläne schmieden, immer mit diesem Feuer in den Augen. Er war ein Meister der Improvisation, der mit seiner Lebensweise, seinen Beziehungen zu seinem sozialen Umfeld und seinen Kletterambitionen die kreativen Grenzen ausreizte. Das war ansteckend.

Eisklettern
Bongard Gruber

Am Berg war klar, dass man einen grossen Tag vor sich hatte, wenn man mit Xaver unterwegs war. Es gab immer HĂĽrden zu ĂĽberwinden, sei es mit seinem Auto oder in einer Kletterroute. Aber leichtsinnig ist es trotzdem nie geworden. Er war ein kluger Kletterer, der aus jeder Situation einen Ausweg fand – indem er die Lage einfach aus einem anderen Blickwinkel betrachtete. Und so, wie er kletterte, so lebte er auch. Auch hatte er eine ziemlich spezielle Art beim Eisklettern, die fĂĽr die damalige Zeit revolutionär war. Er bewegte seine Beine viel, anstatt im Drei-Punkt-Stil zu klettern. Das war etwas, das mir wirklich imponierte. Später im BergfĂĽhrerkurs dachte ich, dass ich die anderen mit diesen Moves auch beeindrucken könne. Jedoch ĂĽberraschte es mich auch nicht, als das gar nicht so gut ankam. Ich werde nie vergessen, wie der der Kursleiter zu mir sagte: «So machen wir das nicht.» Ich glaube, das hätte Xaver gefallen.  Xaver war Metallbauer von Beruf. Und so kletterten wir oft mit von ihm umgebauter, verbesserter oder sogar selbstgebauter BergsteigerausrĂĽstung. Ich habe noch ein paar seiner Exemplare – Copperheads und dergleichen. Seine Pickel waren immer in perfektem Zustand. Bei seinen Händen sah das anders aus – die waren vom ganzen Eis- und Rissklettern ziemlich geschunden und abgenutzt. Er hatte viel gesehen, und obwohl er das wilde Leben lebte, war er immer ehrgeizig bei der Sache und nahm seine Projekte ernst. Er war kein verbissen Getriebener. Er war ein wahrer Meister. 

Während meines Wehrdienstes im Februar 1993 erhielt ich einen Anruf von Toto. «Lass uns morgen auf eine große Tour im Eis gehen», sagte er. «Ich habe ein Projekt an der Breitwandfluh. Eine richtig lange, geniale Eislinie, die auf ihre Erstbegehung wartet.» Leider konnte ich so kurzfristig nicht weg. Toto fand einen anderen Kollegen, Michi Gruber. Gemeinsam konnten sie diese einzigartige, mittlerweile legendäre Eisroute «Crack Baby» bei Kandersteg eröffnen. Das war ein weltweiter Meilenstein im Eisklettern und ich habe mich enorm gefreut, die Route mit Michi anlässlich des Eröffnungsjubiläums Anfang dieses Jahres ↗ erneut klettern zu dürfen.

Eisklettern

Nach dieser Besteigung verlagerte sich Xavers Schwerpunkt auf das Basejumping. Er hatte es vor ein paar Jahren im Yosemite-Nationalpark bei Will Oxx gelernt. Dass er bald darauf ganz vorne in der Schweizer Basejump-Szene mitmischte, wunderte natĂĽrlich niemanden. Das Testen neuer AusrĂĽstung und neuer SprĂĽnge – er leistete echte Pionierarbeit in diesem Sport. Ich wohnte in Bern und arbeitete gerade in der Kletterhalle, als ich den Anruf meiner Schwester erhielt. Xaver war vom «Staubbach» in Lauterbrunnen gesprungen, wie schon viele Male zuvor. Er hatte alles richtig gemacht, wie alle anderen Male zuvor. Und doch öffnete sich sein Hauptschirm nicht. Nach dem Ziehen des Notschirms verhedderten sich beide Schirme und es kam zum Absturz. 

Da ist fĂĽr mich eine Welt zusammengebrochen. Es war ein völliger Schock. Er war der erste Freund, den ich in den Bergen verlor und ich brauchte eine ganze Weile zu akzeptieren, was passiert war. Ich habe alle Prozesse durchlaufen. Ich habe versucht, es zu verstehen, einen Grund zu finden, es zu rechtfertigen. Jetzt könnte man meinen, dass ich meine Beziehung zu den Bergen ĂĽberdenken wĂĽrde, nachdem einem engen Freund und Mentor so etwas widerfährt. Aber in meinem Fall hat es meinen Fokus sogar gefestigt. Ich wollte vollenden, was er begonnen hatte. Ich wollte so leben, wie er es getan hatte. Ein Lebensstil, den es mir ansatzweise gelang zu ĂĽbernehmen. Gleichzeitig bin ich ĂĽberzeugt, dass Toto mir noch viele weitere Lebensweisheiten hätte weitergeben können, wenn er noch am Leben wäre. Vielleicht hätten wir sogar zusammen eine Expedition durchgefĂĽhrt, und möglicherweise wäre er heute sogar etwas stolz auf mich.

«In
meinem
Fall
hat
es
meinen
Fokus
sogar
gefestigt.
Ich
wollte
vollenden,
was
er
begonnen
hatte.» 

Wir haben Xaver vor fast 30 Jahren verloren. Ich habe schon andere Freunde in den Bergen verloren, doch er war der erste. Ich war jung und er war mein Held. Toto begleitet mich in meinen Gedanken. Wir sagen oft: «Der Xaver, der hätte das auch so gemacht». Ich frage mich, wie er heute wäre. Ob er sich mit zunehmendem Alter oder zunehmender Anzahl Sponsoren verändert hätte, oder ob er so frei geblieben wäre. Jetzt, wo ich ein gewisses Alter erreicht habe, denke ich ĂĽber all meine Reifeprozesse nach seinem Verlust nach. All die Reifeprozesse, die er nicht mehr durchleben durfte. 

Als unser eigener Sohn geboren wurde, haben wir ihn Xavier genannt. 

Sicherlich haben andere Toto viel länger und besser gekannt als ich. Aber ich fühle mich geehrt, dass sich unsere Wege gekreuzt haben. Er war nicht nur ein brillanter Alpinist und Mentor für meine Zukunft als Kletterer und Bergsteiger, sondern auch ein Freund, von dem ich viel über das Leben lernen durfte. Toto lehrte mich – vielleicht als wichtigste Lektion von allen – welchen Einfluss wir auf die Menschen um uns herum haben können, auch wenn unsere Wege uns manchmal auseinanderführen.

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