Ein
Naturerlebnis
mitten
in
London

04/2021

Wanderer auf einem Berg mit einer Skyline.

04/2021

@David McConaghy

David McConaghy

Oliver Smith

Für unser seelisches Wohlbefinden war es noch nie so wichtig, die Zeit zu finden, nach draussen zu gehen, frische Luft zu tanken und den Körper in Schwung zu bringen. Angesichts der starken Einschränkungen beim Reisen oder selbst beim täglichen Sport sind Outdoor-Abenteuer für die Einwohner von London jedoch in weite Ferne gerückt.

Während es keine spektakulären Berggipfel oder grossen Seen in der Nähe der Hauptstadt gibt, verstecken sich dennoch einige idyllische Flecken Natur um die M25 herum. Wir haben den aus Nord-London stammenden Outdoor- und Reisejournalisten Oliver Smith losgeschickt, um eine grüne Oase inmitten der Stadt zu erkunden – den Epping Forest. Dieser Wald ist für ihn zu einem Zufluchtsort in der Natur geworden, nachdem seine Abenteuer durch England und Europa auf Eis gelegt werden mussten.

Falls du einmal in einem Flugzeug nach Heathrow sitzen solltest, denke daran, beim Landeanflug über London einen Blick aus dem Fenster auf der rechten Seite zu werfen (kurz, nachdem die Anschnallzeichen angegangen sind). Von dort oben, hoch in den Wolken, fallen weder der Big Ben noch der Buckingham Palace oder gar die Saint Pauls-Kathedrale ins Auge. Das Highlight aus dieser Perspektive ist das grüne Areal des Epping Forest: eines der letzten grossen, Jahrtausende alten Waldgebiete Englands. Eine Art Amazonas im Miniaturformat, der sich, bedingt durch einen geografischen Zufall, unbeeindruckt um die M25 rankt. Epping Forest ist ein langer, schmaler Abschnitt, der sich mehr oder weniger von Norden nach Süden erstreckt: Im hohen Norden verläuft der Wald in der Grafschaft Essex, mit ihren typischen Kirchenglocken, prachtvollen Hecken und Bowling-Bahnen. Im Süden macht sich der Wald mit wehenden Blättern durch die Londoner Innenstadt bemerkbar, die sich überall verteilen: in den Kreisverkehren, auf Parkplätzen, Moscheen mit goldenen Kuppeln und in den Strassen, wo sie sich mit dem Duft von frischem Naan in der Luft vermischen. Oft wird der Epping Forest als Wald am Londoner Stadtrand bezeichnet. Vom Sitzplatz eines landenden Flugzeugs aus betrachtet sieht es aber eher so aus, als würde sich der Wald seinen Weg wie eine grüne Schneise in die Stadt hinein bahnen.

"Das
Ziel
bei
einer
Tour
im
Epping
Forest
ist
es,
die
City
und
die
Welt
kurz
zu
vergessen,
in
die
Natur
einzutauchen
und
sich
voll
und
ganz
darin
zu
verlieren."

Ich wohne ganz in der Nähe des Waldes und gehe dort oft spazieren. Für das Jahr 2020 hatt ich Wandertouren im Snowdonia-Nationalpark, in den schottischen Highlands und in den Alpen geplant – aber die Reisebeschränkungen haben mir einen Strich durch die Rechnung gemacht, und Epping Forest musste als Ersatz für das Abenteuer Wildnis herhalten. Wanderer treffen hier auf völlig andere Bedingungen als in den Bergen. Wenn man in den Bergen unterwegs ist, muss man sich ständig orientieren und Entscheidungen bezüglich der Route treffen. Im Wald hingegen, wo man umgeben von Dickicht und Dornen ist, hilft der Kompass nur selten weiter. Stattdessen sollte man dem Pfad vertrauen, der sich vor den Füssen entlang schlängelt. Die grösste Freude beim Bergwandern ist es, den Gipfel zu erreichen. Ein vergleichbares Ziel bei einer Tour im Epping Forest wäre es – zumindest in meinen Augen –, die City und die Welt kurz zu vergessen, in die Natur einzutauchen und sich voll und ganz darin zu verlieren. Ein Ort, an dem man allerdings nicht verloren gehen kann, ist das Jagdhaus von Königin Elizabeth. Queen Elizabeth's Hunting Lodge ist ein dreistöckiger Turm am Waldrand und der Ausgangspunkt für meine Tour. Der Name ist irreführend – die Lodge wurde eigentlich unter der Herrschaft von Heinrich VIII errichtet, als Epping Forest noch ein königlicher Wald war. Man sagt, dass der König eine beispiellos träge Jagdtechnik an den Tag legte, die darin bestand, vorbeilaufende Rehe vom Fenster aus zu erlegen. Auch Königin Elizabeth zelebrierte den königlichen Komfort; Erzählungen nach ritt sie die Stufen mit ihrem Pferd hoch.

Ich gehe nach Norden – durch Chingford Plain, entlang an den Schilfbänken eines Sees namens Connaught Water. Dieser Bereich des Epping Forest ist für mich die sonnigste, belebteste Ecke des Waldes. Es gibt dort asphaltierte Wege, Wiesen, auf denen im Sommer wilde Blumen blühen – eigentlich die perfekte Kulisse für den Song « Teddy Bear's Picnic ». Ein Labradoodle-Welpe spielt in den Pfützen und in der Ferne hört man die Glocke eines Eiswagens. In seinem Buch « Die Pest zu London » aus dem Jahr 1722 erzählt Daniel Defoe die Geschichte einer Gruppe von Londonern, die im Epping Forest vor der Beulenpest fliehen. 299 Jahre später trägt sich etwas Ähnliches zu. Während der Covid-19-Pandemie strömen die Bewohner Londons in den Epping Forest, um dort ihr tägliches Workout zu absolvieren, ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen und die Weite der Natur zu geniessen. Ich erreiche schliesslich Grimston's Oak – einen mächtigen Baum an einer Waldlichtung. Nördlich von hier verändert der Epping Forest sein Erscheinungsbild. Die Pfade werden matschiger, die Stechpalmenbüsche dichter. Die Landschaft, die dem Thalerwald aus der Zeichentrickserie ähnelt, verwandelt sich allmählich in die Wälder von Tolkien, oder vielleicht erinnert sie auch an die Geschichten der Gebrüder Grimm. Hier trifft man immer seltener auf andere Spaziergänger. Stattdessen kommen immer mehr Legenden zum Vorschein.

Ein paar Kilometer entfernt befindet sich die Festung Ambresbury Banks aus der Eisenzeit. Der Legende nach war dies der Ort, an dem Boudicca, die Königin des keltischen Stamms Iceni, ihren letzten Widerstand gegen die römische Besetzung im Jahr 61 n. Chr. geleistet hatte. Den Zorn der Römer hatte sie auf sich gezogen, nachdem sie deren Jahrhunderte alte Stadt Londinium geplündert, ihre Tempel und Foren in Schutt und Asche verwandelt und ihre Bewohner gefoltert hatte. Nach einigen kaiserlichen Komplikationen wurde London schliesslich von den Römern wieder aufgebaut: Heute leben neu Millionen Menschen in der Metropole. In Ambresbury Banks hingegen hat sich seitdem nicht viel getan: Die einsamen Erdhügel werden hauptsächlich von neugierigen Dachsen aufgesucht. Bald erreiche ich die nächste Festung aus der Eisenzeit: Das Loughton Camp inmitten eines Buchenwaldes. Im 18. Jahrhundert war dieser Teil des Epping Forest das Revier des berühmt-berüchtigten Dick Turpin. Der extravagante Strassenräuber raubte Wanderer auf dem Weg nach London aus, bevor er im Unterholz verschwand und seine Beute in einer geheimen Höhle versteckte. Die Höhle wurde nie gefunden – und natürlich stellt sich die Frage, ob sie überhaupt jemals existierte. Aber der Wald beflügelt die Fantasie der rationalsten Gemüter, und so sucht man bis heute nach Turpins Höhle im Loughton Camp. Mythen und Legenden, die zwischen dem Beton und Asphalt der Londoner City verdorrt und zugrunde gegangen wären, sind tief in diesem Wald verwurzelt: Sie blühen und gedeihen, während sie von Generation zu Generation weitergegeben werden.

"Mythen
und
Legenden
sind
tief
in
diesem
Wald
verwurzelt:
Sie
blĂĽhen
und
gedeihen,
während
sie
von
Generation
zu
Generation
weitergegeben
werden."

Der Epping Forest war lange eine düstere Gegend und ein beliebtes Versteck für die Verbrechen und Missetaten aus der Stadt. Sobald man den Wald betritt, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Baumstämme, Wurzeln, Blätter und Äste bilden ein wirres Geflecht, das die Sicht verhüllt und versperrt. Immer wieder raschelt etwas verdächtig im Unterholz, doch aus den Augenwinkeln lassen sich nur vage Bewegungen wahrnehmen. Das Geweih eines Damhirsches. Der buschige Schwanz eines Rotfuchses. Das Funkeln eines Schatzes in einer geheimen Höhle. Nach mehreren Stunden Fussmarsch – ich habe ein bisschen die Orientierung verloren, als ich mir den Weg durch das raschelnde Laub gebahnt habe, mit den Bäumen als meine einzigen Begleiter –, nimmt der Epping Forest auch in der Fantasie immer grössere Ausmasse an. Während ich durch diesen unendlich erscheinenden, uralten Wald schreite, deutet nicht viel darauf hin, dass es sich eigentlich « nur » um ein 2'400 Hektar grosses Areal im Gebiet der M25 handelt. So stelle ich mir das ursprüngliche England vor, noch vor dem Bau von Autobahnen, den Jagden in Zeiten der Tudors und den römischen Centurions. Ein Ort, den es schon gab, bevor der erste Bauer seine Axt schwang.

Und gerade in dem Moment, in dem mich der Epping Forest fest in seinem magischen Bann hat, zerplatzt der Zauber wie eine Seifenblase. Ohne Vorwarnung katapultiert mich der Wald wieder in die Realität, und ich stehe vor einer Tankstelle, einer Dönerbude und einer Gruppe von Gartenzwergen in einem Vorstadtgarten. Vom Dickicht befreit, steuere ich als erstes The Robin Hood an – das ehemalige Pub an der A104 war schon ein willkommener Rastplatz, als man den Epping Forest noch mit der Pferdekutsche durchquerte. Heute werden Besucher vom friedlichen Antlitz goldener Buddha-Statuen und dem Duft von Ingwer und Koriander begrüsst. Das Pub ist heute ein hervorragendes Thai-Restaurant: Ich hole mir ein Jungle-Curry to Go, und verzehre es auf einem Baumstamm ganz in der Nähe. Ein sanfter Hauch des Regenwaldes aus Südostasien weht in die verregneten Wälder Südostenglands. Nach dem Mittagessen gehe ich nach Westen. Ich lasse die Tiefen des Wald hinter mir und marschiere auf eine Hügelkette mit Blick auf die Hauptstadt zu – Lippits Hill, Yardley Hill und Pole Hill. Der dichte Wald verwandelt sich in eine Landschaft, die von vereinzelten Gehölzen übersäht ist. Die Silhouetten von hohen Gebäuden wie The Shard, The Gherkin und Canary Wharf tauchen immer wieder zwischen den hohen Kiefern auf. Muntjaks springen durch das Dickicht und an den Feldwegen spriessen Narzissen. Ein Specht ist irgendwo am Werk, sehen kann ich ihn allerdings nicht.

Südlich von hier verläuft die Meridianlinie durch das Londoner Zentrum, durch Frankreich, Spanien und die ferne Sahara. Im Norden erstreckt sie sich über das westliche Ende des Epping Forest bis zu den Eiskappen unseres Planeten. Ist es nicht irgendwie absurd, dass die unsichtbare Linie, nach der die ganze Welt ihre Uhren stellt, durch diese Wälder verläuft – dort, wo die Eichen die vergangenen Jahrhunderte in konzentrischen Wachstumsringen messen, und wo die Zeit einen Tick langsamer zu vergehen scheint? Ich gehe den Pole Hill hinunter nach Chingford, wo die Geräusche der Stadt langsam anschwellen – das Rauschen des Verkehrs, die quietschenden Bremsen der Züge. Als die Dämmerung hereinbricht, stimmt ein weiteres Geräusch in die Londoner Symphonie ein – das Rattern eines Helikopters. Die Polizeibeamten der London Metropolitan Police haben ihre Hubschrauber schon längst gestartet und sich vom Flugplatz am Rande des Epping Forest in die Lüfte erhoben. Neidisch stelle ich mir die Aussicht vor, die sich den Piloten heute Abend aus dem Cockpit bietet, während sie in den frischen Frühlingshimmel abheben und die flackernden Lichter der Metropole, die Häuser und Gärten, die Paläste und die Wolkenkratzer aus der Vogelperspektive sehen. Und direkt unter ihnen hüllt sich der Epping Forest in geheimnisvolle Dunkelheit – er ist einer der wenigen Teile der Stadt, die zu dieser Stunde nichts von sich preisgeben.