Jérémie Heitz und Sam Anthamatten über Freundschaft und Risiko
02/2022
@Jeremy Bernard
Jeremy Bernard
Alex Phillips
Die Grenzen des Machbaren ermitteln, verschieben, übertreten – dafür sind Jérémie Heitz und Sam Anthamatten bekannt. Auf den Olymp des Freeridens können wir ihnen nicht ganz ohne weiteres folgen, weshalb wir uns hier und heute die einfacheren Lektionen von ihnen abschauen: Freundschaft, Risiko und Spass im Gebirge.
All in: Mit mehr als zehn Jahren Erfahrung im Big Mountain Skiing wissen Jérémie Heitz und Sam Anthamatten genau, welchen Risiko sie eingehen. Die epochalen «La Liste»-Filme zeigen das Duo an den Flanken bekannter 4000er der Schweiz, feindseliger 6000er in Pakistan und bei Bergungen aus abgelegenster Wildnis in Peru. Genau dort drängt sich wieder und wieder dieselbe Frage auf: Wo liegt das Limit? Mit Jérémie und Sam an einem Tisch haben wir die Gelegenheit genutzt, über ihre Rolle an der Spitze der Big Mountain Skiing Community und die harten Lektionen der Berge zu plaudern.
Wie lange habt ihr gebraucht, um das Team zu werden, das ihr heute seid?Â
JĂ©rĂ©mie: Das braucht schon seine Zeit. Wir fahren jetzt immerhin schon 12 Jahre zusammen Ski. Das erste Mal haben wir uns 2010 auf unseren ersten Competitions getroffen. Nachdem wir uns auf der Freeride World Tour wiedergesehen haben, sind wir das erste Mal zusammen verreist. Er ist Schweizer, ich bin Schweizer – was uns aber wirklich verbindet, ist, dass wir absolut gleich ticken, wenn es ums Freeriden ausserhalb von Wettbewerben geht. Das ist enorm wichtig, wenn man gemeinsam etwas erreichen möchte – mal ganz davon abgesehen, dass er auch so ein super Typ ist, mit dem man gut abhängen kann. Als mir die Idee mit «La Liste» kam, wusste ich sofort, an wen ich mich wende. Es gibt nicht viele da draussen, mit denen man solche Projekte durchziehen kann.Â
Sam: Wie JĂ©rĂ©mie schon meinte: So etwas braucht seine Zeit. Wir haben schon echt viel zusammen erlebt. So eine Freundschaft muss sich aufbauen. Das dauert. Wenn ich mit anderen Leuten in den Bergen unterwegs bin, wird immer viel geredet. Mit JĂ©rĂ©mie reicht ein Blick und die Entscheidung ist klar. Die Berge sind ohnehin schon schwer einzuschätzen. Mit jemandem an deiner Seite, der dich und deine Gedanken versteht, kann man diesen nicht ganz ungefährlichen Spielplatz noch mehr geniessen. Das hat was Magisches an sich.Â
«Wer nicht so viel Zeit in den Bergen verbringen kann wie wir, dem fällt die Entscheidung umzukehren bestimmt schwerer.»
Wie tretet ihr an den anderen heran, wenn es um Unsicherheiten bezĂĽglich einer Line oder eines ganzen Projekts geht?Â
Sam: Da wird nicht lang gefackelt. Sobald Bedenken auftauchen, werden sie auch angesprochen. In solchen Situation nicht lange um den heissen Brei zu reden, schafft diesen besonderen Dialog, den wir beide miteinander haben. Und der hilft uns wiederum dabei, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Â
JĂ©rĂ©mie: Heisst aber nicht, dass alles immer rosig abläuft. Als ich mich bei «La Liste» dazu entschieden habe, auf eine Line zu verzichten, lag das ziemlich schwer im Magen: So ein grosses Ziel! Das werde ich bereuen. RĂĽckblickend betrachtet jedoch ein absolut klarer Fall. Ich habe mir die Ehrlichkeit entgegengebracht, die ich mir damals geschuldet habe. Soll heissen, dass ich in dieser Situation von meiner langjährigen Erfahrung profitieren konnte. Vermutlich wäre derselbe Entschluss jemand JĂĽngerem schwerer gefallen. Manchmal frage ich mich, wie es wohl wäre, wenn auch ich nur an Wochenenden auf die Ski könnte. Wer nicht so viel Zeit in den Bergen verbringen kann wie wir, dem fällt die Entscheidung umzukehren bestimmt schwerer. Wir aber können einfach auf bessere Bedingungen warten. Â
PHOTO TAKEN BY @LUCA ROLLI
Worin seht ihr die grössten Risikofaktoren im Gebirge?Â
Jérémie: Im Faktor Mensch.
Sam: Heikel wird es immer dann, wenn man mit einer Gruppe unterwegs ist, deren Mitglieder sich nicht so gut kennen und sich untereinander vielleicht noch etwas beweisen möchten. Bei komplexen Schneebedingungen ĂĽbersieht man wichtige Warnzeichen leichter. Wenn man sich in so einem Setting zu allem Ăśbel noch selbst fordert, kann das so weit gehen, dass man geradewegs auf einen gravierenden Fehler zusteuert.Â
Jérémie: Besonders wenn wir filmen, also mehrere Leute mit dabei sind, kann das schnell zu einem regelrechten Balanceakt werden.
Apropos filmen: Wie sieht der Planungsprozess fĂĽr eine Expedition oder andere Grossprojekte bei euch aus?Â
JĂ©rĂ©mie: FĂĽr «La Liste» sind wir in der Schweiz erstmal alle 4000er abgeflogen, die wir uns vorgenommen hatten und haben dort, wo wir abfahren wollten, den Schnee genau geprĂĽft. Das Zeitfenster gibt ja schon nicht viel her, und dann mĂĽssen auch noch die Bedingungen stimmen. Die Vorbereitungen laufen natĂĽrlich anders ab, wenn man sein gewöhnliches Ski-Wochenende plant. Aber ganz egal wer du bist und was du machst – sobald du die Piste verlässt, bedarf das einer sauberen Planung. Wo steigt man auf, wo fährt man ab ... man versucht mit allen Mitteln sicherzustellen, dass der Plan aufgeht, dass man an dem Tag auch wirklich fahren kann. Ein Riesenaufwand – aber das ist eben Skifahren, wie wir es lieben. Das ist auch der Grund, weswegen wir Wettbewerben den RĂĽcken gekehrt haben. Der erste Planungsschritt jeder Expedition wird zuhause am Computer gemacht. Wenn es dann endlich losgeht und die Mission auch noch gelingt ... das ist unbeschreiblich.Â
Sam: FĂĽr «La Liste» in Pakistan waren das allein fĂĽnf Monate Planung fĂĽr fĂĽnf Lines.Â
JĂ©rĂ©mie: Pssst, Sammy. MĂĽssen ja nicht gleich alle wissen [lacht].Â
Sam: Aber ist doch so! Der ganze Planungsprozess läuft nicht willkĂĽrlich ab. Wir haben nicht einfach gesagt: «Auf nach Pakistan.» Es hat ein ganzes Jahr gedauert, bis die Entscheidung gefällt war, nicht nach Nepal oder Indien zu fahren. Man verbringt viel Zeit damit, herauszufinden, was ĂĽberhaupt möglich ist, und was nicht.Â
«Sobald du einsiehst, dass rein gar nichts deiner Kontrolle unterliegt, bringt dich nur noch Demut weiter.»
Wer glaubt, dass ihr am Berg nur so vor Sicherheit und Selbstvertrauen strotzt, vernachlässigt wahrscheinlich euer sorgfältiges Risikomanagement. Was ist euer Credo, um am Berg gleichermassen ehrgeizig wie vorsichtig zu bleiben?Â
Sam: Bescheidenheit bedeutet, jede seiner Entscheidungen kritisch zu hinterfragen. Damit meine ich nicht, sich zu kritisieren, sondern sein Handeln zu hinterfragen.Â
JĂ©rĂ©mie: Sobald du einsiehst, dass rein gar nichts deiner Kontrolle unterliegt, bringt dich nur noch Demut weiter. Du musst die richtige Entscheidung treffen. Dein ganzes Können spielt dann keine Rolle mehr. Eine falsche Entscheidung und es knallt. Egal wie gut du fahren magst, du brauchst immer ein vorrausschauendes Team mit guten Ratschlägen. Und es kann jedes Mal etwas passieren – dessen muss man sich bewusst sein.Â
Wir Profis gewöhnen uns mit der Zeit daran, das Limit wieder und wieder zu pushen. Das ist gefährlich, denn wenn die Routine zunimmt, tut sie das gerne auf Kosten der Vorsicht. Gestern zum Beispiel waren Sam und ich eisklettern. Der Aufstieg selbst ist gar nicht so gefährlich, aber fädel beim Abseilen einmal das Seil falsch ein: Game over. Selbst die Sachen, die du tagtäglich machst, musst du bewusst machen. Und das bedeutet wiederum, demĂĽtig zu sein.Â
Da muss ich an Lynn Hill denken – die Kletterikone, die vergass, sich einzubinden. Profisportlerinnen und Profisportler stehen vor der anspruchsvollen Aufgabe, Fans und Community einen authentischen Einblick in und realistischen Ausblick auf den Sport zu bieten, ohne dabei aufstrebende Generationen abzuschrecken. Wie steht ihr zu diesem Thema?Â
Sam: Wir wollen niemandem der nächsten Generation nicht vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hat. Das sah bei uns frĂĽher nicht anders aus, wir sind auch einfach drauflos. Sie sollten aber unbedingt die AusrĂĽstung nutzen, die es gibt, um das Risiko zu minimieren. Als ich mit dem Freeriden anfing, hatte ich eine alte Holzschaufel, keine Sonde, kein LVS ...Â
Jérémie: Warte mal ... wie alt bist du doch gleich?
Sam: Heute wĂĽrde man jeden mit einer solchen AusrĂĽstung fĂĽr bescheuert erklären. Aber hey ... jeder fängt mal klein an.Â
JĂ©rĂ©mie: Auch ich wĂĽrde lĂĽgen, wenn ich behaupten wĂĽrde, ausschliesslich bei sicheren Bedingungen gefahren zu sein. Wenn ich mich jedoch mit meinem jĂĽngeren Bruder vergleiche, dann stehen ihm heute so viel mehr Hilfsmittel und Möglichkeiten zur VerfĂĽgung. BergfĂĽhrerweiterbildungen und Kurse mit Pro-Ridern zum Beispiel. Doch auch wenn wir uns in eine gute Richtung bewegen, kann mehr dafĂĽr getan werden, Lawinenkurse den JĂĽngeren noch schmackhafter zu machen.Â
«Wenn alles glattläuft, ist das ein bisschen langweilig. Beim Versuchen und beim Scheitern zuzuschauen ist da schon viel interessanter.»
Im Rahmen von Aspects Ep. 01 ↗ haben wir mit Forrest Schorderet über die Rolle der Medien und ihren Einfluss auf Lawinensicherheit und das Freeriden selbst gesprochen. Was meint ihr? Tut sich da was?
JĂ©rĂ©mie: Ăśber echten Ski-Porn zu stolpern wird immer schwieriger. Ein paar Labels machen das noch, jedoch geht es mehr und mehr ums grosse Ganze. Zuschauerinnen und Zuschauer möchten das GefĂĽhl bekommen, hautnah mit dabei zu sein: die Reise nach Pakistan, das Essen vor Ort und so weiter. Wer hätte gedacht, dass wir uns irgendwann so transparent geben mĂĽssen – ein Umstand, ĂĽber den wir uns erst mal klar werden mussten. Als der erste «La Liste» rauskam, kam zum Beispiel sehr gut an, wenn ich gestĂĽrzt bin oder einen Ski verlor. DarĂĽber wurde geredet, weil es nahbar ist. Wenn alles glattläuft, ist das ein bisschen langweilig. Beim Versuchen und beim Scheitern zuzuschauen ist da schon viel interessanter.Â
Sam: Vor fĂĽnf Jahren hätte das noch anders ausgesehen. Damals hätten wir nicht alles, was es in «La Liste: Everything or Nothing» zu sehen gibt, gezeigt. Wenn eine Line wegsackt, direkt nachdem ich sie gefahren bin, dann spricht das nicht unbedingt fĂĽr mich als TourenfĂĽhrer. Doch war das nun mal die nackte Wahrheit. Und es tut gut, darĂĽber zu reden. Dass wir Leute mit unserem Ski-Style inspirieren, wissen wir. JĂ©rĂ©mie und mir ist es wichtig, anzusprechen, dass es nicht immer einfach ist – und dass unser Handeln ernste Folge haben kann.Â
Hat sich das kollektive Sicherheitsdenken im Laufe eurer Karriere geändert?Â
Sam: Hinsichtlich AusrĂĽstung und Kommunikation hat sich im Freeriding enorm viel getan. Die Zahl der Menschen, die die Piste verlassen wächst – die Unfälle pro Kopf nehmen ab.Â
JĂ©rĂ©mie: Stimmt. Man merkt es an der Art und Weise, wie ĂĽber den Sport geredet wird. Dabei geht es gar nicht um besseres Material, stabilere Schaufeln oder leichtere Sonden ... das ist gar nicht das Kernthema bei der Sache. Wir reden hier von einer NotfallausrĂĽstung. Wenn das Zeug zum Einsatz kommt, dann ist die Situation verdammt brenzlig. FrĂĽher ging es beim Freeriding eher noch um angeben, heute ist es viel mehr ein Erziehungs- und Ausbildungsding. Das Bewusstsein steigt und Profis, also auch wir, mĂĽssen sich immer mehr Gedanken machen, was fĂĽr ein Bild man da draussen verkörpert. Heute sind viel mehr Freerider unterwegs. Frag die doch mal, ob sie LVS, Schaufel und Sonde in ihrem Airbag-Rucksack dabeihaben. Die Antwort ist: ja – und zwar, weil sich Kommunikation und Mindset verändert haben.Â
Anders als Studierende und BĂĽroangestellte könnt ihr mehr als nur ein paar schöne Wochenenden in den Bergen verbringen. Was ist euer Rat an all diejenigen, die auf ihrem lang ersehnten Ski-Ausflug schlechte Bedingungen vorfinden?Â
Sam: Dass man umkehren sollte, ist nicht immer klar und deutlich erkennbar. Darum finden wir es hilfreich, immer einen Plan B parat zu haben: Ă„hnliches Setting, immer noch die Möglichkeit, sich zu fordern, allerdings in einer sichereren Umgebung. Im Hochgebirge an dein Limit zu gehen, obwohl du eigentlich Schiss hast – das macht keinen Spass.Â
JĂ©rĂ©mie: Eine andere Möglichkeit, wenn das Wetter und die Bedingungen nicht mitspielen: Alternativen finden. Das war auch unsere Motivation, mit dem Paragliden anzufangen. Sollten wir oben feststellen, dass die Schneeverhältnisse nicht passen, fliegen wir runter und gehen am Nachmittag vielleicht noch biken oder so. Mit Ausweichaktivitäten im Ă„rmel fĂĽhlt man sich nicht ganz so verbissen auf den ursprĂĽnglichen Plan fixiert. Das Wetter macht, was es will, und wir mĂĽssen das akzeptieren.Â
Habt ihr noch einen letzten Ratschlag fĂĽr diejenigen, deren Herz genauso fĂĽrs Skifahren schlägt, die aber nicht so oft dazu kommen, wie ihr?Â
JĂ©rĂ©mie: Am Ende des Tages liegt die Entscheidung bei dir. Die solltest du aber durchs Einholen anderer Meinungen nochmals spiegeln, hinterfragen, festigen – je nachdem. Ich gebe sehr viel auf das Feedback von BergfĂĽhrerinnen, BergfĂĽhrern und Locals im Allgemeinen. Ganz besonders auf Reisen natĂĽrlich. Das beginnt bereits in der Stadt am Fuss des Berges. Trau dich, geh auf die Leute zu und frag sie nach ihrer Meinung.Â
Sam: Es muss einfach alles stimmen. FĂĽr mich heisst es grĂĽnes Licht, wenn ich es nicht zu sehr versuchen muss. Wenn alle Zeichen gegen dich stehen, ist es vielleicht auch okay, einen entspannten und trotzdem schönen Tag in den Bergen zu verbringen. Sie werden schon wiederkommen, diese Tage, an denen alles flowt: die Gruppendynamik, der Lawinenbericht und so weiter. Und das sind dann genau die Tage, an denen diese wunderbaren Erinnerungen an eine fette Session entstehen.Â
Online-Workshop: Sicherheit im Schnee - Jetzt ansehen ↗
Geschichten aus dem Lawinengelände Aspects Ep. 01 ansehen ↗Â